Willkommen in der Gedankenwelt der Eintagsfliegen

Mein Notebook ist schon fast zwei Jahre alt. Zu alt, - zumindest für den Akku. Ihn zu ersetzen ist aber gar nicht einfach: Mein Computerverkäufer musste ihn irgendwo in Europa in einem kontinentalen Zentrallager anfordern und das dauerte drei Wochen, bis ich ihn dann für 120 Franken abholen konnte. Weder der Hersteller noch der Verkäufer rechnet heute damit, dass so ein Produkt repariert werden will, es wird gewöhnlich einfach durch ein neues ersetzt. Die Sendung „Espresso“ von Radio DRS hat unlängst darüber berichtet, dass einzelne Bestandteile in Elektrogeräten so konzipiert werden, dass sie nach kurzer Betriebszeit defekt werden, in der Regel nicht später als nach zwei Jahren. Mein Computer hat sich also an seine Vorbestimmung gehalten, - nur ich habe mich nicht damit abfinden können, einen gut funktionierenden Rechner einfach wegzuwerfen.

Die Lancierung von neuen Konsumartikeln in allen Lebensbereichen folgt in immer noch kürzeren Zeitabschnitten: Elektrogeräte, Lebensmittelprodukte – insbesondere Fertiggerichte, Kosmetika, Modeprodukte, Versicherungsangebote und unerklärbare Anlageinstrumente der Banken. Wir haben uns bereits daran gewöhnt, dass sich Produkte, die unseren Alltag mitbestimmen, in immer kürzerer Abfolge verändern und wir sie einfach ersetzen.

Auch die Inhalte unserer Gedankenwelt ersetzen wir schneller. Die Fülle an Informationen, die auf uns einwirken, nimmt tagtäglich zu. Durch die elektronischen Medien erleben wir sie unmittelbarer und sie werden kurzlebiger. Die fette Schlagzeile, die heute das Schicksal einer Familie weit weg beschreibt, trifft uns hautnah und lässt uns erzittern. Morgen schon erinnert sich niemand mehr daran, denn der Wintereinbruch im Calancatal schiebt die eingeschneiten Kühe in den Mittelpunkt.

Auch an die Schnelllebigkeit der Informationen haben wir uns, ohne es zu merken, bereits gewöhnt. Dabei will ich nicht leugnen, dass das Internet auch mithilft, wichtige Informationen für mehr Menschen der Erde zugänglich zu machen. Verschiedene Demokratiebewegungen wäre ohne Internet, Facebook, Twitter und ähnliches nicht möglich geworden. Den Wahrheitsgehalt der Nachricht aus der weiten Welt können wir zwar nicht überprüfen, aber immerhin gelangen auch unabhängige Berichte in alle Länder und zu allen Gesellschaften.

Bei Produkten und Informationen gewöhnen wir uns an den Eintagesrhythmus: Heute top – morgen flop. Offensichtlich werden nun auch unsere ethischen Werte durch die Wegwerfmentalität erfasst. Die Erklärung der Menschenrechte von 1789 hat über Jahrhunderte als Massstab für den Respekt der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen gegolten. Unsere humanitären Grundwerte haben wir in der Bundesverfassung verankert und Art. 7 formuliert unmissverständlich: „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.“ Heute werden die humanitären Grundwerte tagtäglich in Frage gestellt, wenn ich etwa an die gegenwärtigen Diskussionen um Flüchtlinge, Menschen mit Behinderung, Sozialhilfebedürftige oder die schwindende Solidarität zwischen jung und alt denke. Sie gelten nicht mehr als Fundament unserer Gesellschaft, sobald ein Sonderling mit einem Fehltritt für eine süffige Schlagzeile herhalten kann. Unsere schweizerische Identität ist direkt verbunden mit der jahrhundertelangen humanitären Tradition der Schweiz. Ich frage mich, ob wir als Gesellschaft bestehen können, wenn wir die Grundwerte so leichtfertig in Frage stellen und uns in die kurzlebige Welt der Eintagsfliegen fallen lassen.

Thomas Hardegger