Wochenspiegel Nr. 14

April 2012 - Seit einem Jahr gilt die neue Pflegefinanzierung, die die Kostenaufteilung in der Langzeitpflege regelt: Krankenkasse, öffentliche Hand und Betroffene finanzieren die Pflegleistungen nach genauer gesetzlicher Vorgabe. Vorausgegangen ist ein jahrelanger, beispielloser Kostenschacher der Krankenkassen mit Bund und Kantonen. Nie wurde vom „würdig altern“ gesprochen, auch nicht über das Versprechen bei der Einführung des neuen KVG’s, das die Übernahme aller Pflegkosten durch die Krankenkassen vorgesehen hatte; aber sehr oft vom Geld, und dass vor allem die anderen mehr zu zahlen hätten. Die Menschen, die jahrzehntlang gearbeitet haben, Kinder aufgezogen, Freiwilligenarbeit geleistet und ihre eigenen Eltern gepflegt haben, sind nun „Leistungsbezüger“ und die Alterszentren, die Spitex und die Spitäler sind „Leistungserbringer“. Diese nüchternen Begriffe sollen uns wohl davor schützen, die pflegebedürftigen Menschen zu spüren und Gefühle wie Dankbarkeit gegenüber den Betagten aufkommen zu lassen. Einzig der Wirtschaftlichkeit verpflichtete Regelungen verhindern, über die Solidarität zwischen den Generationen nachzudenken.

Die Bundesverfassung und die Kantonsverfassung, zu denen wir uns mittels Volksabstimmung bekannt haben, formulieren Aufgaben und Ziele für den Erhalt des sozialen Zusammenhalts: Existenzsicherung in Notlagen, Lebensqualität der Menschen im Alter, Unterstützung von Familien mit Kindern, gegenseitige Achtung und Toleranz der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Was passiert wenn eine erwachsene Person durch Krankheit, Unfall oder einen persönlichen Schicksalsschlag in längere psychische und wirtschaftliche Not gerät? Dann ist eine unkomplizierte Unterstützung alles andere als selbstverständlich. Krankenkasse, Invalidenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Taggeldversicherung, Zusatzleistungsstelle, Sozialamt, Pensionskasse, private Versicherung; sie alle brüten darüber, ob wirklich sie unterstützungspflichtig wären oder nicht doch eher die andere Stelle. Viele Arbeitsplätze hier sind scheinbar nur dazu da, die Kostenpflicht abzuwehren und eine Begründung zu finden, die eine Weitergabe des „Falles“ rechtfertigt. Den Betroffenen trifft neben der persönlichen Not auch der Gang von Pontius zu Pilatus und oft die Suche nach einer Beratungsstelle, die im Dickicht der Bestimmungen und Verfügungen noch den Durchblick hat.  Wir sollten ernsthaft prüfen, ob die Zusammenlegung einzelner sozialen Unterstützungsstellen nicht sinnvoller wäre.

Ich setze mich tagtäglich dafür ein, dass das Geld der Steuerzahlenden sinnvoll und effizient eingesetzt wird. Oft geht jedoch der Blick aufs Ganze verloren. Weil wir alles besonders gerecht und korrekt und reglementieren, geht der Mensch darüber ganz vergessen. Und wir streiten um einen Franken mehr oder weniger Unterstützung, während wir gleichzeitig zulassen, dass Kapitalerträge oder Spekulationsgewinne in Milliardenhöhe nicht versteuert werden. Wir beschliessen Steuersenkungen, von denen nur die höchsten Einkommen profitieren, dafür verlangen wir von Pflegebedürftigen höhere Beiträge, von Eltern mehr Kostenbeteiligung für Krippenplätze und von S-Bahn-Nutzern höhere Ticketpreise. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist wohl hauptsächlich durch unsere Rechenspiele um die Kosten der Betagten, Familien und Sozialfälle gefährdet als durch fehlendes Geld.