St. Galler Tagblatt

Samstag, 10.03.2012 St. Gallen

Tobias Gafafer

 

Jährlich treten in Schweizer Spitälern bei sieben Prozent der Patienten postoperative Infektionen auf. 2000 Todesfälle und Mehrkosten von 240 Millionen Franken seien die Folge. Dies schreibt der Bundesrat in der Antwort auf einen Vorstoss. Gemäss Recherchen unserer Zeitung will die Patientenlobby das Problem nun umfassend anpacken. Der Dachverband der Patientenstellenmacht in Bern mit drei koordinierten Vorstössen Druck.

Umkehr der Beweislast

Zum einen soll neu die Beweislast umgekehrt werden: Bei einer Verletzung der Sorgfaltspflicht sollen nicht mehr die Geschädigten, sondern die Spitäler in der Pflicht stehen. Wegen komplexer Abläufe in den Spitälern sei es für Betroffene fast unmöglich, eine Spitalinfektion zu beweisen, heisst es im Vorstoss von Edith Graf-Litscher (SP/TG).Zumanderen verlangt die Patientenlobby vom Bund ein Hygienegesetz für Spitäler. Weiter sollen Spitalinfektionen flächendeckend erfasst werden, indem sie in die Meldepflicht für übertragbareKrankheiten aufgenommen werden.

Infektionsrate massiv senken

Ein Nachholbedarf besteht: Das Infektionsrisiko in Schweizer Spitälernkönnteumbiszu30 Prozentgesenktwerden, sagt Andreas Widmervonder Klinik für Infektologie und Spitalhygiene am UnispitalBasel.


Bund soll Spitäler zur Hygiene zwingen

In der Schweiz fehlt auf Bundesebene ein Hygienegesetz für Spitäler. Nun wächst der politische Druck, damit die Spitäler sich an einheitliche Vorgaben halten müssen. Auch die Überwachung der Spitalinfektionen soll verbessert werden.

Resistente Keime können bei einer Spitalbehandlung zum Tod führen – auch in der Schweiz. DieBakterien lassen sich zwar mit Massnahmen wie der konsequenten Desinfektion oder Einzelzimmern kontrollieren, auch wenn sich Infektionen nie ganz ausschliessen lassen. Im Gegensatz zu anderen Ländern kennt die Schweiz allerdings kein Hygienegesetz, das den Spitälern Vorgaben macht. «Jeder kann tun, was er will», sagt ein Branchenkenner. Nun geht die Patientenlobby in die Offensive: «Die freiwillige Basis reicht nicht. Einige Spitäler sind mustergültig, andere machen viel zu wenig.»», sagt Erika Ziltener, Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Patiententstellen (DVSP) und Zürcher SP-Kantonsrätin. Verschärft wird das Problem offenbar durch den Kostendruck, der mit der Einführung der Fallpauschalen entsteht. Auch für Experten besteht Nachholbedarf: Andreas Widmer vonder Klinik für Infektologie und Spitalhygiene am Unispital Basel bestätigt, dass das Potenzial in der Schweiznichtausgenutztwird.

Erste Erhebungen laufen
In einem neuen Vorstoss fordert Nationalrat Thomas Hardegger (SP/ZH) deshalb ein Hygienegesetz. Konkret sollen für die Spitäler Hygienestandards erstellt und deren Umsetzung kontrolliert und sanktioniert werden. Vorbild ist Deutschland, das eine qualifizierte spitalhygienische Betreuung verlangt und detailliert weitereVorschriften macht. Nachholbedarf besteht offenkundig ebenso bei der Überwachung von Spitalinfektionen. «In der Schweiz ist dies erst im Aufbau », sagt Andreas Widmer, Mitglied von Swissnoso, einer Expertengruppe der Unispitäler. Im Auftrag des Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken hat Swissnoso 2010 zwar erstmals die Infektionsraten in Schweizer Spitälern erhoben und Empfehlungen abgegeben. Dies betrifft aber nur bestimmte Operationen. Auch hier wird die Patientenlobby nun aktiv: In einem weiteren Vorstoss verlangt Nationalrat Jean-Fran¸cois Steiert (SP/FR) vom Bund eine systematische Erfassung resistenter Keime. Der Forderungskatalog des DVSP setzt weiter auf einen Ausbau der Patientenrechte: So soll die Beweislast bei Infektionen auf das Spital umgekehrt werden. Die Kulanz der Spitäler sei zu gering,
sagt Ziltener. «Wohl auch, weil sie wissen, dass die Geschädigten den Beweis nicht erbringen können. » Hinter dem Vorstoss von Nationalrätin Edith Graf-Litscher (SP/TG) stehen auch Bürgerliche wie Ignazio Cassis (FDP/TI) oder Martin Candinas (CVP/GR).

Für die Unschuldsvermutung

Der SpitalverbandH+hat seine Position zu den Forderungen nochnicht festgelegt. Der Umkehr der Beweislast etwa steht Direktor Bernhard Wegmüller aber kritisch gegenüber. «Es gilt die Unschuldsvermutung. » Stattdessen sei eine Regelung der Entschädigung denkbar,wie sieSchweden kenne. Ziltener ihrerseits sagt, ihr Verband wolle bloss den Druck auf die Spitäler erhöhen. «Uns geht es nicht um eine Prozesslawine.»